Diskurs und Ökonomie – Teil 7: Anlegerstreik

Mit dem Begriff Streik assoziiert man landläufig etwas anderes als den Unwillen von Anlegern, auf dem Kapitalmarkt zu investieren. Vom „Anlegerstreik“ wird hingegen in einem Beitrag auf dem Portal Oekonomenstimme gesprochen:

In Europa scheint es zu einer Art Anlegerstreik gekommen zu sein. Viele Anleger sind offensichtlich nicht mehr bereit, ihr Geld für negative Realzinsen und derzeit auch negative Nominalzinsen zur Verfügung zu stellen

Sichtbar wird hier zunächst einfach die Interdiskursivität des Streikbegriffes (deutlich auch in weiteren Wortschöpfungen wie Hungerstreik, Gebärstreik, Sitzstreik oder auch Verbraucherstreik). Streik wird hier assoziativ als Form der Verweigerung gelesen, hier als ein Zurückhalten oder Entzug von Geld auf den Finanzmärkten. Eingeebnet werden dabei zugleich zwei meines Erachtens wichtige Differenzen:

  1. Die im Streikrecht sich manifestierende historische und politische Differenz zwischen der ‚Verweigerung‘ der Erbringung von Arbeitsleistungen und der ‚Verweigerung‘ Geld anzulegen. Erweist sich das Streikrecht als historische (und keineswegs globale) Errungenschaft, so scheint ein Anlegerstreik kaum eine rechtliche oder geographische Assoziation aufzuweisen. Vielmehr ist dieser Streik ein Ausdruck von vorhandenen oder eben fehlenden Anlagemöglichkeiten, assoziiert entweder mit dem globalen Spiel von Angebot und Nachfrage oder – auch dies steckt in der Rede vom Anlegerstreik – mit dem Verhalten eines trotzigen Kindes.
  2. Die unterschiedliche Mobilität von Arbeit und Kapital – dort geht es um globale Anlagemöglichkeiten, hier um den Wert der eigenen Arbeitsleistung, eingebettet in einen sozialen und biographischen Kontext im weitesten Sinne. Hier ließe sich auch anschließen an Diskussionen um die ‚internationale Kapitalmobilität‘. Im Sinne des Zusammenhanges von Diskurs und Ökonomie liegt aber auch die gerne vom Organisationstheoretiker Günther Ortmann zitierte Aussage von Herbert Simon nahe: „In einem sehr realen Sinne ist der Leiter oder Vorgesetzte nur ein Busfahrer, dessen Passagiere ihn verlassen werden, wenn er sie nicht in die gewünschte Richtung fährt“ (Simon 1951, S.134, zitiert in der Einleitung zu Ortmann/Sydow/Türk (2000): Theorien der Organisation, S.15). Hierauf Ortmann bereits 1976: „Die Begriffe sind blind gegen den Unterschied zwischen einem Fahrgast, der den Bus verläßt, wenn der in die falsche Richtung fährt, und einem 55jährigen Arbeiter, der im Betrieb nicht aufmuckt, weil für ihn ‚Aussteigen‘ doch wohl eine andere Bedeutung hat“ (Ortmann 1976, S.46, zitiert ebenda).

Insofern mögen einen streikende Anleger sympathisch oder problematisch erscheinen; die Rede vom ‚Anlegerstreik‘ erweist sich unbewusst – hier im Sinne der Rhetorik – als Euphemismus, als uneigentliche Form der Rede und führt mit sich jene Ortmann’sche ‚Begriffsblindheit‘ gegenüber jener Bedeutung, welche Streik im ursprünglichen Kontext innehatte und durchaus immer noch besitzt.

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